So dramatisch, wie es Tony vorhergesagt hatte, war es dann doch nicht. Ein heftiger Sturm werde abends aufziehen und das Meer vor der walisischen Küste derart aufwühlen, dass es selbst im Schutz der Bucht von Abercastle richtig ungemütlich werde. Vom Wind aufgepeitschtes Wasser, das gegen die Fenster schlägt, heftige Regenschauer, die aufs Dach trommeln – Tonys Worte ließen eine unruhige erste Nacht in Doves Cottage erwarten, ein pittoreskes Häuschen in Pembrokeshire, das sich nur weniger Meter über dem Meer an den Hang schmiegt, früher den örtlichen Fischern als Schankstube diente und heute als wunderbares kleines Feriendomizil zu mieten ist.
Nun muss man wissen, dass Tony kein Meteorologe, sondern Taxi-Fahrer ist, den zwei Touristen aus dem Feierabend gerissen haben – weil sie bei der Anreise ins winzige Abercastle den letzten Bus in Fishguard verpasst hatten. Und ja, Tony weiß die örtlichen Wetterkapriolen durchaus zu schätzen, wie er auf der kurzweiligen Fahrt gesteht. „In der Wandersaison sind einsetzender Sturm und Regen gut fürs Geschäft“, begründet Tony sein Faible für Schmuddelwetter und grinst. Für Leute, die auf dem Küstenpfad vom Regen überrascht werden, sei er häufig der Retter in der Not. Man werde sich in den nächsten Tagen bestimmt noch einmal sehen, prophezeit dann auch Tony beim Abschied im malerischen Hafen von Abercastle, lächelt wieder verschmitzt und wuchtet die Rucksäcke seiner Kunden aus dem Kofferraum.
Doch Tony wird sich auch hier täuschen. Zwar lässt in den kommenden Tagen die Sonne nicht immer das tiefblaue Meer glitzern und den Erika-Ginster-Teppich noch farbenprächtiger als unter Wolken leuchten. Und bisweilen bläst einem beim Marsch auf dem Wales Coast Path schon mal ein kräftiger Wind ins Gesicht. Aber bis auf etwas Nieselregen bei Strumble Head, wo auf einem Felsen ein weißgetünchter Leuchtturm über dem tosenden Meer thront, bleibt es trocken – nahezu perfektes August-Wanderwetter, bei dem man auch dann nicht ins Schwitzen kommt, wenn die Sonne scheint und es auf dem abwechslungsreichen Küstenpfad mal steil bergauf geht. Soll doch den anderen in Griechenland oder Italien auf den Sonnenliegen der Schweiß aus den Poren schießen.
David Miles, der nach eigenen Worten durch und durch ein Waliser ist, hat nach dem Studium lange Jahre in London gearbeitet und fand nach der Pensionierung mit Abercastle seinen persönlichen Traumort für den Ruhestand. Wales-Wetter gestählt steht er an diesem frischen Morgen bei abflauendem Wind in Shorts und T-Shirt in seinem Garten. Er blickt über die langgezogene Bucht, aus der sich bei einsetzender Ebbe das Wasser langsam zurückzieht, ohne in der stürmischen Nacht Schäden an den Booten angerichtet zu haben. Seine aktuellen Nachbarn und Gäste in Doves Cottage lauschen in langen Wanderhosen, Windstopperjacken und mit Mützen auf dem Kopf seinen Lobeshymnen auf diesen Landstrich im Südwesten von Wales. Die Ruhe, das Meer, die Gezeiten, sein Boot, die spektakuläre Küste, die einsamen Buchten – er kenne keinen Flecken auf dieser Erde, wo er lieber leben möchte, sagt David. „Es ist ein kleines Paradies.“
Als sich 2013 die Chance bot, hat er sein heutiges Wohnhaus und Doves Cottage daneben gleich mit erworben. Direkt am Wales Coast Path gelegen, lasse sich dieses kleine Juwel sehr gut vermieten, berichtet David, der mit sonnengegerbter Haut, seinem weißen Haar und Vollbart wie ein erfahrener Seemann wirkt – kein Wunder bei dieser Postkartenkulisse. Dass es weder Handyempfang noch einen Internetanschluss in Doves Cottage gebe, schrecke potenzielle Gäste nicht wirklich ab. „Im Gegenteil“, sagt David, „Viele empfinden das als Wohltat.“ Und wenn es denn unbedingt sein müsse, könne man ja auf die Anhöhe hinter dem Cottage steigen, fügt er hinzu. Dort gibt es neben der atemberaubenden Aussicht auf die raue See ein schwaches Handysignal.
Ja, die wildromantische Küste von Pembrokeshire im Allgemeinen und der Abschnitt zwischen St. Davids und Fishguard im Besonderen gehören zum Schönsten, was das kleine Wales landschaftlich zu bieten hat – und das ist wirklich viel. Wer als Wanderer in St. Davids aus dem Strumble Shuttle steigt, ein Kleinbus, der zwischen Fishguard und St. Davids dreimal täglich verkehrt und dabei jeden noch so kleinen Weiler ansteuert, sollte in Großbritanniens kleinster Stadt aber unbedingt die dortige Kathedrale besuchen, bevor er sich bei Whitesands Bay auf den Küstenpfad Richtung Norden begibt – ein sowohl von außen als auch innen beeindruckendes Bauwerk, das sich im Mittelalter zu einem bedeutenden Wallfahrtsort entwickelt hatte. Auch dank Papst Calixtus II., der in seiner Amtszeit von 1119 bis 1124 die für britische Katholiken praktische Pilgergleichung aufstellte: zwei Pilgerreisen nach St. Davids entspricht einer nach Rom.
Apropos Wiederholung: Wer von der nahegelegenen Whitesands Bay nach Abercastle gewandert ist, wird ebenfalls versucht sein, dies ein weiteres Mal in seinem Leben zu tun – auch wenn dafür keine Vergebung von Sünden winkt. Es ist einfach nur unglaublich schön. Das satte Grün vor blauem Meer, dazu die lila leuchtenden Erika-Felder, der knallgelbe Ginster, dazwischen blökende Schafe und freilaufende Pferde oder in einer der kleinen, versteckten Buchten die heulenden Robben, die auf den Felsen ein Sonnenbad nehmen, später die blaue Lagune von Abereiddi, der von hohen Klippen eingerahmte Traumstrand Traeth Llyfn oder das gemütliche Fischlokal The Shed Fish in Porthgain – dieser Küstenpfad ist ein wahres Fest für alle Sinne.
Aber nicht nur wegen der spektakulären Küstenlinie von Pembrokeshire ist Wales für Wander-Fans ein absolut lohnendes Ziel. Auf vergleichsweise engem Raum findet man unterschiedlichste Landschaftsformationen. Knapp 100 Kilometer weiter nördlich bieten beispielsweise die Berge im Eryri (Snowdonia) Nationalpark richtig alpines Gelände, auch wenn der Mount Snowdon, dessen walisischer Name Yr Wyddfa wie so viele Ortsbezeichnungen hier von Fremden kaum auszusprechen ist, gerade mal 1085 Meter hoch ist. Immerhin trainierte Sir Edmund Hillary für die Erstbesteigung des Mount Everest am Mount Snowdon.
Auf der Nordseite führt zwar eine Zahnradbahn auf das Felsmassiv, das nicht selten in Nebel gehüllt ist. Trotzdem schleppen sich an halbwegs trockenen Sommerwochenenden Massen an Waliserinnen und Walisern jeglichen Alters und Fitnesszustandes zu Fuß den Berg hoch. Viele mit dafür ungeeignetem Schuhwerk – was bergab auf dem felsigen, feuchten Weg im oberen Abschnitt sichtlich gefährlich ist. Mehrmals begegnet man an Knien oder Händen blutende Wanderern. Ihre keuchenden und nicht immer trittsicher wirkenden Landsleute lassen sich davon freilich nicht abschrecken. Spätestens hier wird einem klar: die Waliserinnen und Waliser sind einfach hart im Nehmen.
Wer mehr Abenteuer sucht, der entscheidet sich für den Snowdon Horseshoe. Eine anspruchsvolle Route, die die Gipfel von Crib Goch, Carnedd Ugain, Snowdon und Y Lliwedd hufeisenförmig miteinander verbindet – mitunter eine echte Kraxelei ausartet, die nichts für schwache Nerven ist. Der Kammweg bietet spektakuläre Aussichten, die man allerdings nur genießen kann, wenn man schwindelfrei und absolut trittsicher ist.
Amanda Whitehead, die seit vielen Jahren als Wanderführerin unterwegs ist, meidet an den Wochenenden den Snowdon-Trubel. Sie erkundet dann mit ihren Kunden lieber die umliegenden Berge und genießt dort die Ruhe und Abgeschiedenheit. Amanda wohnt im 20 Kilometer entfernten Conwy, eine Kleinstadt mit knapp 15.000 Einwohnern in Nordwales. Bekannt ist Conwy vor allem durch die gut erhaltene Burgruine mit ihren acht Wehrtürmen, die bis zu 30 Meter hoch sind. Englands König Eduard I. hatte die imposante Wehranlage im 13. Jahrhundert erbauen lassen, um seinen Herrschaftsbereich in Wales zu sichern. Amanda, die selbst Engländerin ist, beschreibt das heutige Verhältnis zwischen ihren Landsleuten und den Walisern als ziemlich entspannt. „Das ist in etwa so wie zwischen zwei Brüdern, wobei der kleinere die Stärke des größeren in der Regel akzeptiert, sich aber umso mehr freut, wenn er ihm mal eins auswischen kann.“ Am besten beim walisischen Nationalsport Rugby.
Noch zieht es vor allem englische Touristen nach Wales, Deutsch hört man selten. So auch in Conwy, das mit den Conwy Mountains auch ein kleines, aber feines Wanderrevier zu bieten hat. Von den Grashügeln aus hat man einen herrlichen Blick auf die Städtchen mit seiner alles überragenden Burg.
So schön die Aussichten von oben auch sind, die Gäste zieht es wegen der Burganlage und der heimeligen Altstadt nach Conwy. Zwar ist der Ort im Sommer gut besucht, konnte sich aber trotzdem seinen Charme bewahren. An der Kaimauer haben Urlauberkinder einen Heidenspaß beim Krabbenfischen, in den gemütlichen Cafés genießen die Gäste zum Nachmittagstee Welsh Cakes – kleine, runde und mit Zucker bestäubte Kuchen – und abends zieht es Einheimische wie Urlauber in einen der gemütlichen Pubs, wie das „Albion Ale House“, das vier walisische Brauereien gemeinsam betreiben und schon als bestes Pub des Landes geadelt wurde. Das ebenso freundliche wie kompetente Personal schenkt in drei schlicht eingerichteten Gasträumen mit hohen Decken verschiedene regionale Biere aus, auf die man stolz ist, und gibt auf Wunsch detaillierte Auskünfte über Herkunft und Charakteristik des jeweiligen Gerstensafts. Speisekarte? Fehlanzeige. An diesem unprätentiösen Ort konzentriert man sich ganz auf flüssige Nahrung. Musik dudelt übrigens auch keine aus Lautsprechern. „Das würde bei der Unterhaltung nur stören“, erklärt der junge Mann hinter dem Tresen und pumpt auf seine Empfehlung hin ein Madogs Ale ins Pintglas.
Das dunkle, malzige Bier stammt aus Porthmadog, einer kleinen Hafenstadt, die im 19. Jahrhundert als wichtiger Umschlagplatz für Schiefer florierte. Letzterer war lange Zeit ebenso wie Kohle ein echter Walisischer Exportschlager. Der Schiefer, der in Porthmadog verschifft wurde, stammte größtenteils aus Blaenau Ffestiniog, das lange als „Hauptstadt des Schiefers“ galt. Heute lebt der Ort vom Tourismus, obwohl er auf den ersten Blick nicht sonderlich einladend wirkt. Aber da ist zum einen die Ffestiniog Railway, eine Schmalspurbahn, die sich von Porthmadog durch die liebliche Hügellandschaft am Rande des Eryri (Snowdonia) Nationalparks nach Blaenau Ffestiniog hoch schlängelt. Zweiter Besuchermagnet ist die „Zip World Llechwedd“, eine Art Untertage-Vergnügungspark. In den dunklen, feuchten Kammern, die die Bergleute als Resultat einer heute kaum vorstellbaren Plackerei hinterlassen haben, wird jetzt eine Art Golf gespielt und auf riesigen Trampolinen unter buntem Licht gehüpft. Was die Minenarbeiter wohl dazu sagen würden, von deren Leid und Entbehrungen man bei der ebenfalls angebotenen und beeindruckenden „Deep Mine Tour“ erfährt?
Selbst William Alexander Madocks, seinerzeit ein echter Visionär, würde sich wohl wundern. Jener Unternehmer und Philanthrop, der 1811 einen Deich bauen ließ, den Cob, um dem Meer Land und Flächen für die landwirtschaftliche Nutzung abzuringen – was gleichzeitig dafür sorgte, dass ein neuer Hafen mit genügend Tiefgang für hochseetüchtige Segelschiffe zum Abtransport des Schiefers nach England entstand. Es war die Geburtsstunde von Porthmadog.
William Alexander Madocks war es auch, der unweit von Porthmadog an einem Hang den Bau der ersten Regency-Villa von Nordwales in Auftrag gab. Von der Terrasse aus konnte er auf seinen Cob, die saftigen Wiesen, die Bäume, die sanften Berge dahinter blicken. Heute erfreuen sich die Gäste von Howard und Mark Mattingley-White an diesem Panorama, das wie ein perfekt durchkomponiertes Landschaftsgemälde das Auge beglückt. Die beiden haben Madocks Villa als äußerst liebevoll geführte Pension „Plas Tan-Yr-Allt“ mit drei Schlafzimmern und einem herrschaftlichen Frühstücksraum wiederbelebt, das sich auch als stilvolles Basislager für Ausflüge in den Eryri (Snowdonia) Nationalpark eignet. Inmitten der vielen Antiquitäten und historischen Elemente fühlt man sich wie in einer anderen Epoche – und spätestens dann, wenn Howard in seiner feinen britischen Art das Frühstück serviert, garniert mit einer feinen Brise britischen Humors, sogar ein bisschen wie ein Aristokrat.
Etwas rustikaler, wenngleich auch stets sehr freundlich geht es in walisischen Bussen und Zügen zu. Busfahrer und Schaffner beantworten mit bewundernswerter Geduld sämtliche Fahrgastfragen. Busse stoppen auch mal dort, wo keine offizielle Haltestelle ist, damit der betagte Fahrgast oder der schwer bepackt Tourist etwas weniger weit laufen muss.
Und überhaupt, ein Hoch auf die walisischen Busfahrerinnen und Busfahrer – sie sind die Heldinnen und Helden der walisischen Landstraßen. Häufig super schmal und mit Steinmauern auf beiden Seiten begrenzt lassen diese eigentlich keinen Ausweichspielraum. Aber die Frauen und Männer am Steuer schaffen es auf wundersame Weise immer, ihren Busse an entgegenkommenden Fahrzeugen vorbei zu manövrieren – was schon mal für Applaus bei den Fahrgästen sorgt. Als Tourist ist man dann einfach nur froh, sich gegen den Mietwagen und für den gut funktionierenden ÖPNV in Wales entschieden zu haben.
Unvergessen auch der Ratschlag des Busfahrers am Busbahnhof von Swansea. „Don’t believe the app“, entgegnet er dem Urlauber, der beim Einsteigen auf sein Handy mit einer vermeintlichen schnellen Verbindung der Wales Transport-App nach Rhossili auf der Halbinsel Gower deutet. Nein, diese Verbindung mit einem Umstieg werde nicht funktionieren. Stattdessen rät der Mann am Steuer dem Touristen freundlich, aber bestimmt, den Direktbus nach Rhossili eine knappe Stunde später zu nehmen – er muss es ja eigentlich auch wissen.
Beim Ausstieg in Rhossili ist das lange Warten am Busbahnhof von Swansea in kürzester Zeit vergessen. Rhossili Beach gilt als einer der schönsten Strände der Welt – zurecht. Selbst der Nieselregen, der aus dicken grauen Wolken fällt, kann diesem „Supermodel britischer Strände“, wie die Zeitung The Independent einmal schrieb, nichts anhaben. Kilometerlang schmiegt sich der breite Sandstreifen an die Hügel, wo Wildpferde und Schafe weiden. Dazwischen nur das alte weiße Pfarrhaus, das sich vom satten Grün abhebt. Egal, ob man oben an der Klippe zusieht und zuhört, wie die Wellen gleichmäßig auf den Strand zurollen oder unten auf dieser riesigen makellosen Sandfläche flaniert, staunend am Holzskelett der 1887 gesunkene Helvetia stehen bleibt, das skulpturenhaft aus dem Sand ragt – die Schönheit von Rhossili Beach macht einen schier sprachlos. Es ist der perfekte Start- und Endpunkt für eine Küstenwanderweg auf der Gower-Halbinsel, mit einem kühlen Bier auf der Terrasse des Worms Head Hotel hoch über Rhossili Beach als krönenden Abschluss.
Aber nicht nur Swansea, auch Cardiff, die zweite Großstadt von Wales und Hauptstadt, kann mit einem Naturparadies quasi vor der Haustür glänzen. Rund eine Stunde dauert es mit dem Bus vom sympathischen Cardiff ins Herz der Brecon Beacons – eine sagenhafte Heidelandschaft mit mächtigen Grasbergen, die durch Wetter und Zeit geformt wurden und als spektakuläre Fantasy-Filmkulisse taugen – allen voran der 886 Meter hohe Pen y Fan. Noch so ein wunderbares Wales-Wanderrevier.